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© Dipl.-Geogr. Martin Werner

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Als ich Christtagsfreuden holen ging

Eine moderne "Peter-Rosegger-Geschichte", von Martin Werner

  W ir alle kennen die Geschichte vom kleinen Peter, der sich am frühen Morgen am Tag des Heiligabends auf den weiten, beschwerlichen Weg macht von Alpl ins Tal nach Langenwang um im Dorf all die Sachen zu besorgen, die für das Weihnachtsfest der Familie des Waldbauern benötigt werden.

Der Geschichte haftet etwas romantisches an. Wir alle lieben sie. Die Erzählung des vor genau 161 Jahren geborenen Volksschriftstellers Rosegger fasziniert seit eh' und je jung und alt. Die Schilderungen des Waldbauernbuben sind in ihrer kindlich-naiven Art gerade für uns Erwachsene ein kostbares Relikt unserer eigenen einst unbekümmerten Kindheit und deshalb sind wir umso empfänglicher für die Erzählung des Jungen. Als dreißigjähriger Mann schrieb Rosegger diese seine Kindheitserinnerungen nieder und erlangte mit seinem Buch "Als ich noch der Waldbauernbub war" eine große Popularität. Besonders das Kapitel "Als ich Christtagsfreuden holen ging" wird gerne zur Weihnachtszeit gelesen. Die Schilderung des weiten beschwerlichen Weges in aller Herrgottsfrühe am Heiligabend, die Natur in ihrer Schönheit, Beschaulichkeit und Einsamkeit durchdringt und besticht durch die einfache Erzählweise.

Fast wird man wehmütig und meint, heutzutage hätten wir das alles nicht mehr. Die gute alte Zeit scheint verloren gegangen, vorbei zu sein. Vorbei scheinen die Tage, an denen die Natur noch Allmacht hatte und man ihr Beachtung und gebührenden Respekt entgegenbrachte. Vorbei die Zeit der Abhängigkeit von ihr. In einer Zeit der schnellen technischen Neuerungen lebt der Mensch in immer größer werdendem Abstand zur Natur. Mal ehrlich: wann waren wir das letzte Mal im Wald und haben bewußt inne gehalten um wirklich natürliche Geräusche zu hören, wie z.B. das Rufen eines Kuckucks? Erkennen wir eigentlich noch die Stimmen der Natur? Hören wir noch das Rauschen von Tannen im Wind oder sind wir mittlerweile in unserer hochtechnisierten Gesellschaft so abgestumpft, daß wir nur noch auf extravagante Klingeltöne von Handys reagieren oder Werbeslogans wie "Geiz ist geil" und "Wohnst du noch oder lebst du schon"?

Mit dem Voranschreiten der Technik hat sich unsere Gesellschaft nach dem Kriege gewandelt in einem unsagbaren Ausmaß. Vom Agrar- und Industriestaat hin zur Dienstleistungsgesellschaft, mit vielen Banken, Büros und Instituten. Heutzutage kommt der Durchschnittsmensch in Mitteleuropa nur noch ganz wenig oder überhaupt nicht mehr in Kontakt mit der Natur. Der rudimentäre Kontakt äußert sich im kurzen Weg zur Bushaltestelle oder gar nur der 10 Meter vom Haus zum Auto und vom Auto ins Büro. Den direkten Kontakt zur Natur haben wir - seien wir ehrlich - auch Gott sei Dank nicht mehr nötig. Denn Natur war stets lebensfeindlich dem Menschen gegenüber. Sie hatte die Macht über ihn. Nicht er über sie. Dennoch vermissen wir Natur und streben ihr entgegen. In unserer Freizeit. Im Urlaub. Wir erleben sie, genießen sie: beim Wandern, Skifahren, Walking, Jogging, im Garten, im Park, im Wald, am See, im Gebirge...

Gerade weil wir den alltäglichen Kontakt zur Natur verloren haben, suchen wir sie in unserer Freizeit. Aber nicht nur das leibliche Naturerleben vor Ort gibt uns die Erholung die wir brauchen sondern wir genießen auch die romantisch-verklärten Erzählungen über die Allgegenwärtigkeit der Natur, wie sie einst das Leben der Menschen bestimmte, wie die Menschen sich in ihr fühlten, wie sie im Einklang mit ihr lebten, mit welcher Beschaulichkeit und Gelassenheit sie ihr Leben führten. All diese Lebensgewohnheiten haben wir in den letzten Jahrzehnten aufgegeben um sie gegen andere viel bequemere einzutauschen. Eingeengt in Büros fristen viele von uns ein regelrecht klinisches, von der Natur abgeschottetes Dasein. Aber gerade deshalb sind wir für Schilderungen und Geschichten über und um die Natur so empfänglich: weil tief in unserem Innern noch ein Keim dieser Faszination da ist, zwar nur rudimentär, doch sie ist da.

Und die Natur ist immer allgegenwärtig: wir müssen sie nur erkennen und für unser Leben zu Nutzen wissen. Die Naturerfahrung kann schon in kleinen Momenten der Besinnung erquickend und erholungsspendend sein. Wir müssen sie nur erkennen.

Ich bin überzeugt davon, daß jeder von uns auf seine Art eine Peter Rosegger-Geschichte bereits erlebt hat, ein Ereignis in der Weihnachtszeit, wo vielleicht sogar die Natur eine Hauptrolle gespielt hat, so wie auch in meiner nun folgenden Geschichte.

Die nachfolgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, wie sie sich in meiner Jugendzeit zugetragen hat, die ich aber nach dem Muster der Erzählung Peter Roseggers noch etwas ausgebaut und wie ich sagen möchte dramaturgisch noch etwas verfeinert habe. Und so möchte ich nun gerne beginnen zu erzählen...

Es begab sich am Vorabend des Weihnachtsfestes des Jahres 1985, daß ich den ganzen nachmittag bis zum frühen Abend an meinem Mofa rumbastelte um durch einige geübte Handgriffe das zu bewirken, was dringend vonnöten war: nämlich ein intaktes Zweirad, mit dem ich am nächsten Tag einen wichtigen Auftrag für die Familie übernehmen sollte, nämlich all die köstlichen Sachen zu besorgen, die wir für das bevorstehende Weihnachtsfest benötigen würden.


In der Garage war es kalt. Die Wetterlage hatte sich schon in der letzten Woche umgestellt. Von den ursprünglich herbstlichen Temperaturen war seitdem nichts mehr zu spüren. Vielmehr war es seit dieser Woche kalt, und das nicht zu knapp: gerade erst vorgestern hatte es in aller Ruhe des mittags begonnen zu schneien; zuerst nur ganz leicht, dann zunehmend stärker und bevor man sich umsehen konnte war die ganze Landschaft weiß geworden. Fortan zierte eine Schneedecke von schätzungsweise fünf Zentimetern Dorf und Flur. Darüber freute ich mich natürlich; aber nicht nur über das Wetter sondern auch auf das bevorstehende Fest. Seit Wochen hatte ich mich - wie die ganze Familie auch - sorgfältig darauf vorbereitet.

Gemeinsam mit Mutter hatte ich an mehreren Abenden der Adventszeit Plätzchen gebacken. Außer einigen Kostproben hatte ich aber keine Süßigkeiten essen dürfen, war es doch die Fastenzeit, die das gebot. Aber ab morgen sollte sich dies nun ändern und ich würde endlich Gelegenheit haben, all die Köstlichkeiten zu probieren, ja mehr noch: in ausreichender Stückzahl diese zu genießen...

Bei dem Gedanken an die vielen leckeren Plätzchen wurde mir wärmer, denn ich fror: die Garage, in der auch die kleine Werkstatt untergebracht war, bot nur wenig Schutz vor der klirrenden Kälte. Mit Mühe kniete ich unter dem Zweirad, das jetzt schon seit gut einem Jahr mein ständiger Begleiter war und ich mittlerweile liebgewonnen hatte. Meine Prima 5SL war ein gutmütiges und zuverlässiges Gefährt. Bisher hatte sie mich nie im Stich gelassen. Nicht einmal auf den langen Touren. Darauf war ich stolz. Aber es war auch mein Verdienst, denn in geradezu penibler Art und Weise kümmerte ich mich stets um Motor und Verkleidung, so daß schon Teile ausgetauscht wurden, bevor sie verschlissen, verbraucht oder brüchig waren.

Nun hatte ich die Arbeiten fast abgeschlossen, nur noch die lästige Schelle des Auspuffs klemmte am Rohr und mußte über die Krümmung hinweg am Zylinder befestigt werden. Nach einigen Handgriffen war auch dies getan und ich wischte mir die schmutzigen Hände an einem Lappen ab. "Na endlich! Wenn die Kiste jetzt nur noch anspringt!" Ich stellte die Pedale in die richtige Position und trat darauf. Tatsächlich startete die Maschine auf Anhieb wenngleich der Motor mit einigen Fehlzündungen zunächst gräßliche Töne von sich gab um danach gemächlich und ruhig vor sich hinzutuckern. "Okay, das war's dann!" triumphierte ich und klatschte in die Hände. Dem Vorhaben morgen würde damit nichts mehr entgegenstehen.

Zufrieden ging ich ins Haus und wusch mir die Hände. Mutter rief alsbald zum Essen: liebevoll hatte sie den Tisch gedeckt . Bald saßen wir alle zusammen: Vater am Kopf des großen hölzernen Tisches, Mutter direkt neben ihm. Es folgte Andreas, mein Bruder und schließlich ich selbst. Zunächst sagte keiner ein Wort. Schweigend ging jeder seiner Tätigkeit nach: Vater löffelte ununterbrochen an seiner Suppe, die Mutter war drum und dran, ein Brot mit Margarine zu schmieren und anschließend reichlich mit Wurst zu belegen. Andreas mampfte gemütlich an der in Scheiben geschnittenen Blutwurst und ich verlangte nach dem Suppentopf. Die Mutter unterbrach die Stille: "Martin, hast du dein Mofa hingekriegt?" Ich bestätigte durch Kopfnicken. "Da mußt du morgen aber früh los, der Markt öffnet ja bereits um 10."

"Ja ja, bestätigte ich nochmals kurz um mich sodann wieder meiner Suppe zu widmen.
Die Mutter fuhr fort: "Hier hab' ich die Einkaufsliste... Wenn du im Markt warst, kannst du noch in die Stadt fahren, zum Gasser, einen Film für den Foto holen.
Und vergiß nicht die Apotheke, ja? Nur Aspirin und 2 Packungen Spalt, das ist alles. Ich hab' dir hier alles aufgeschrieben..."

Ich war nach dem Essen müde und begab mich bald zu Bett. Morgen sollte es ein anstrengender Tag werden und da mußte ich fit sein. Zufrieden mit dem heutigen Tag und in freudiger Erwartung des morgigen Tages legte ich mich hin und schlief fest ein.

Ich war damals ein begeisterter Mofafahrer. Schon viele Touren hatte ich in diesem ersten Jahr mit meinem Mofa hinter mich gebracht, große wie kleine. Ich erinnere mich noch gerne an meine erste Urlaubstour im Sommer, die ging quer durch den Odenwald. Mit meinem Mofa war ich endlich unabhängig und konnte Landstriche, Regionen und Länder auf eigene Faust erkunden ohne die Eltern. Das war neu und ich war ständig am Planen neuer immer längerer Touren. Auf meine Herkules Prima 5SL war ich stolz. Und selbst in der kalten Jahreszeit machte ich längere Touren, auch wenn das Wetter nicht immer das beste war. Und jetzt stand Weihnachten vor der Tür und ich hatte von meiner Mutter aufgetragen bekommen, am Heiligabend ein paar Besorgungen für das bevorstehende Fest zu tätigen.

Und so sah ich mich schon des Morgens losfahren. Ganz langsam und sachte fuhr ich am Berg an, grüßte den Nachbarn, der seinen Hund ausführte im Vorbeifahren.


Das Zweirad bahnte sich sicher seinen Weg durch den dichten Schnee. Plötzlich schoß eine Katze, sie war schwarz wie Kohlen, wie von einer Tarantel gestochen, über die Straße. Ich erschrak und bremste augenblicklich, ohne auf den glatten Untergrund aufzupassen. Ich merkte nur noch, wie das Lenkrad zur Seite glitt und ich nach vorne ins Leere fiel. Der weiße Boden kam näher und ich dachte nur noch: "Wenn er sich so anfühlt wie er aussieht, dann passiert mir bestimmt nicht viel!" Doch ich sollte mich täuschen, denn ich schlug mit einer solchen Wucht auf, daß es laut in der Schulter krachte. Ich rollte und drehte mich viele Male, dann lag ich im Schnee. Mein Mofa war noch allein ein Stück weitergefahren um dann in den Straßengraben hineinzupoltern; das Hinterrad drehte durch, der Motor heulte noch einmal auf, dann ging er aus. Ich spürte, wie etwas Warmes aus meiner Nase herauslief und bitteren Eisengeschmack in meinem Mund verbreitete. Dann hörte ich den Nachbarn in schnellen Schritten näherkommen und rufen: "Martin, Martin, is alles klar mit dir? Mensch hast du einen Salto gemacht..." -

Ich erwachte naßgeschwitzt. Gott sei dank war das nur ein Traum. "Uff! Blöde Katze. Wenn ich die erwische, dann mache ich Hackfleisch aus ihr". Ein Blick zum Wecker: dort stand in rotleuchtenden Zahlen 02:23 Uhr. An Einschlafen war nun vorerst nicht mehr zu denken, so aufgewühlt war ich jetzt. Wäre es denn möglich, daß eine Katze das ganze morgige Vorhaben über den Haufen werfen könnte? Nun, anscheinend schon. Ich nahm mir noch einmal fest vor, morgen besonders vorsichtig zu fahren, schließlich trug ich ja die ganze Verantwortung für das Gelingen des Festes. Passierte irgend etwas, so würde es an den Feiertagen nichts zu essen geben beziehungsweise die Familie müßte mit Suppe vorlieb nehmen. Und da es ohnehin das ganze Jahr über Suppe gab, wollte das keiner. Nicht an Weihnachten!

Also das wäre doch nicht zum Aushalten: Kein Weihnachtsfestbraten, keine Pommes frites, keine Kroketten. Und erst die Knödel. Die würden uns dann auch entgehen. Und erst Recht der edle Lachs und Kaviar. Richtig. Dazu sollte es doch auch Sekt geben. Damit würden wir am Heiligabend anstoßen. Oh, und dann war da noch der herrliche Vanille-Pudding, dessen vorzüglich sahniger Geschmack mir das Wasser im Mund zusammenlaufen läßt wenn ich nur daran denke. Also ich konnte mir ein Weihnachten ohne all diese Köstlichkeiten nicht vorstellen. Umso wichtiger war es, daß die Fahrt nach Alzey gut verlief. Ich malte mir aus, wie schön der Heiligabend werden würde wenn ich meine Tour hinter mich gebracht hätte: mit Vater gemeinsam würde ich den Christbaum schmücken. Und im Gedenken an den Adventskranz, der nun ausgedient hätte, würden wir diesen würdig bei einem Nikolausbier oder auch zweien verabschieden.


Nämlich im Kamin, der knisternd für wohlige Wärme sorgen würde. Die Mutter würde die Geschenke packen und emsig im ganzen Haus unterwegs sein. Ah ja, das wird schön werden. Bei all diesen Gedanken an das bevorstehende Fest schlief ich endlich ein.

Am Morgen, dem Heiligabend des Jahres 1985 wurde ich durch leise Musik meines Radioweckers sanft geweckt. Ich blieb noch einige Minuten liegen, dann hörte ich im Halbschlaf mit zunehmender Aufmerksamkeit in den Nachrichten: "...Die heftigen Schneefälle der letzten Nacht haben den Verkehr in der Region zum Erliegen gebracht. Bis zur Stunde haben sich auf den Bundesstraßen zahlreiche Unfälle ereignet, die aber glimpflich abgelaufen sind. Die Bevölkerung wird gebeten, nur in äußersten Notfällen das Auto zu benutzen. Straßenwacht und Autobahnmeisterei sind pausenlos im Einsatz auf Autobahnen und Bundesstraßen. Nach Auskunft des Deutschen Wetterdienstes ist von weiteren Schneefällen am Heiligabend auszugehen."

Nun war ich vollends wach, sprang auf und eilte zum Fenster. Rolladen hoch. Doch so einfach ging das nicht. Er bewegte sich nur mit größter Kraftanstrengung. Erst nach einigem Rucken gab er nach. Schließlich war der Blick nach draußen frei: in der Tat hatte es zu den ursprünglichen 5 cm in der Nacht hinzugeschneit: und zwar nicht zu knapp.
"Wow, das sind gut und gerne 20 cm Schnee!" jubelte ich, ohne mir über die Konsequenzen klar zu sein. Noch im Schlafanzug und barfuß ging ich mal auf die Schnelle nach draußen um genauer nachzusehen: draußen war es noch dunkel. Äußerst still lag die Dorflandschaft da, unter den riesigen Mengen Schnee regelrecht begraben. Und die Stille war betörend. Kein Auto fuhr, keine Menschen waren unterwegs. Der Schnee schien sogar alle morgendlichen Aktivitäten der Nachbarn besiegelt zu haben. Hastig zog ich mich an, vergaß auch nicht den Trainingsanzug unter die Jeans anzuziehen und ging nach oben, wo schon Mutter aktiv war. Es roch nach einer Mischung aus Teig, Zimt, Kaffee und Räucherkerzen. Der Adventskranz brannte und vom Schallplattenspieler her ertönte: "Leise rieselt der Schnee". In der vorderen Ecke direkt an Vaters Regal hatte Mutter die vielen Geschenke hingelegt. Eben war sie gerade dabei, ein ganz voluminöses Paket in rotem Weihnachtspapier verschwinden zu lassen.

"Ei, Martin, guten Morgen. Gut, daß du schon wach bist. Ich hätte dich ohnehin gleich geweckt. Hast du schon mal rausgeschaut? Es hat dermaßen geschneit daß kein Durchkommen mehr möglich ist sagten sie vorhin in den Nachrichten! Ich habe vorhin mit Vater gesprochen. Er schlug vor, die nötigsten Sachen beim Bäcker Geeb und beim Metzger Lawall zu holen."
"Und all die anderen Sachen: Semmelknödel, Kartoffelbrei, Pommes frites und so weiter?" entgegnete ich.
"Vater meinte, wir könnten die wenigen Sachen, die wir dort nicht bekommen bestimmt entbehren. Eine Packung Semmelknödel habe ich sogar noch in der Vorratskammer entdeckt..."
"Und was wird aus den Aspirin und den Spalttabletten? Brauchst du die auch nicht über die Feiertage?" fragte ich.
"Aber Bub" entgegnete darauf die Mutter, "ich kann dir doch nicht zumuten, bei diesem Wetter unterwegs zu sein!"
"Ich schaff' das schon! Ich komm' mit dem Mofa besser durch als die Autos!" begründete ich. "Weißt du noch, Anfang des Jahres, wo das gefährliche Glatteis war, da bin ich auch gefahren und bin gut durchgekommen!"
"Ja, aber da hattest du auch nicht soviele Sachen mitzubringen!" entgegnete die Mutter.
"Ach, das geht schon! Laß mich nur mal machen" sagte ich, um Hoffnung zu verbreiten. Mir wurde langsam bang um das Festessen. Und ein Weihnachten ohne Weihnachtsgans, genug Semmelknödel und Preißelbeeren, Rouladen, Kartoffelbrei, Pommes frites und Kroketten, war einfach unvorstellbar für mich. Ich spielte noch einmal den Joker aus mit der Apotheke: "Du weißt genau, wie sehr du auf Spalt angewiesen bist. Insbesondere jetzt an Weihnachten, wo's mal stressig wird mit den Vorbereitungen und uns und so. Da bekommst du sicher wieder Kopfweh...!"
Das zog. "Ja, du hast recht! Aber fahr' wirklich nur, wenn es dir nichts ausmacht, mein Guter!"

Im Innern triumphierte ich. Freute ich mich doch auf die Fahrt und den Einkauf und besonders auf Weihnachtsgans und Semmelknödel.


"Willst du noch ein Brot, bevor du fährst?" fragte besorgt Mutter. "Ja, gerne!" Und so ging sie zurück in die Küche um nach wenigen Momenten wieder mit einem Brot auf dem Teller zurückzukehren. "Hier, iß!" Ich ließ es mir schmecken, derweil Mutter noch einmal den Einkaufszettel rezitierte: "Also zuerst holst du dann die Sachen beim Massa, dann kannst du etwas Essen gehen in die Kantine und dann fährst du in die Stadt, am besten zuerst zum Gasser, dann in die Apotheke. Und vergiß die Spalttabletten nicht... So, hier den Zettel, lies mir nochmal alles laut vor..."
Dies machte Mutter immer, daß sie den Einkaufszettel sich vorlesen lies, denn dann war sie sicher, daß ich alles verstanden hatte und damit auch richtig mitbrachte. Und so las ich, noch kauend, vor:

"1 Dose Erbsen, 1 Dose Mais, 1 Glas Mixed Pickles, 1 Glas Gurken, 3 große Packungen Reis, 4 Pakete Semmelknödel von Erdmann, dann an der Wursttheke 1 Pfund Aufschnitt, ¾ Pfund Wellfleisch, 200 g Salami, 300 g gekochten Schinken, 1 Pfund Mett, 200 g Rinderhack, ½ Pfund Scheibenmalz..."
"Schweineschmalz!" korrigierte die Mutter. "Und wenn Sie Schweineschmalz in der Fleischerei nicht haben, dann schau in den Truhen nach, nahe der Bäckerei, da müßte das auf jeden Fall abgepackt vorhanden sein!"
Ich nickte und fuhr fort: "...10 Wienerwürstchen, 10 Rindswürstchen..."
"Verlang aber die Würstchen aus dem Angebot!" unterbrach die Mutter abermals. "Da kosten 100 g nämlich nur 49 Pfennig!"

Ich fuhr mit dem Lesen fort: "An der Fleischtheke: 2 Eisbein, 4 Schweineschwänze, 6 Stielrippchen..."
"Wenn sie keine Stielrippchen haben, kannst du auch vom Kamm bringen!" gab Mutter die mögliche Alternative bekannt.
"1 Gans, 3 Hähnchen, 2 große Tüten Pommes frites von MacCain, Kroketten, 4 Pizza..."
"Da kannst du bringen, was du willst!" meinte sie.
"An der Bäckerei: 10 Brötchen, 4 Puddingteilchen, 8 Granatsplitter, 4 Donauwellen, 6 Windbeutel, 2 Stück Sahne-Kirsch und 3 Stück Sacher-Torte..."
"Auf der Rückseite geht's weiter!" wies Mutter darauf hin.
"Ah ja: Butter, Margarine, 1 Pfund Kaffee, Schokaro, Kelloggs Cornflakes, Haferfloken, 3 Beutel Milch, 2 große Tafeln Kinderschokolade, 1 Tüte Haribo, ähm, dann... 1 Flasche Domestos, 2 x Spülmittel, 1 x Akopads, 1 x Tempo groß, 1 x Haarfärber Lady Color Farbe Nr. 345..."
"Die Farbe ist Kastanienbraun!" ergänzte die Mutter sinnvoll.
"... 1 Paar Socken Gr. 37-42, Baumwolle"
"Die sind auch im Angebot" wies Mutter auf das Marktblatt hin.
"Hosen aus Woberei abholen!"
"... aus der Wäscherei abholen, die Hosen von Papa! Und verplauder' dich nicht so mit Tante Hilde!
Tante Hilde war die Schwester unseres Nachbarn Weber und sie arbeitete in der Wäscherei neben dem Markt. Ich unterhielt mich mit ihr stets wenn ich dort etwas abzuholen hatte.
"Und wenn du das alles hast, dann kannst du in der Kantine was Essen und Trinken gehen, Geld ist genug im Portemonnaie."
"Alles klar. Okay dann fahr ich jetzt gleich los!"
"Paß gut auf. Und fahr nicht so schnell!" rief Mutter noch hinter mir her.
Ich rief im Hinunterlaufen der Treppen noch ein lautes "Tschüüüß" nach oben um dann im Keller zu verschwinden.

So ging es nun endlich los. Zuerst hieß es mal, sich richtig anzuziehen. Über der Thermounterwäsche trug ich bei meinen Fahrten im Winter stets ein paar dicke Cordhosen, die am unteren Ende mit einem Reißverschluß zugezogen werden konnten. Der dicke Rollkragenpullover war stets ein Muß und darüber den Parka. Schal und Handschuhe, Sturmhaube gegen den rauhen Wind und den Nierengurt nicht zu vergessen, der gegen Unterkühlung im Bauchbereich nötig war. Wenn ich mich im Keller stets angezogen hatte, dann mußte ich mich beeilen, daß ich nach draußen kam, sonst fing ich partout an zu schwitzen. Den Helm unter dem Arm zog ich von dannen, durch die Garage zum fahrbaren Untersatz. Ich nahm die Expander von der Wand und verstaute sie in einer Tüte. Damit würde ich später die Taschen am Gepäckträger befestigen.

Ich öffnete die Garage und schob alsdann die Maschine nach draußen. Den Benzinhahn um 90 Grad gedreht, daß er geöffnet war, setzte ich mich, zog den Choke und die Dekompression und trat auf die Pedale. Der Motor startete sofort, diesmal korrekt ohne laute Fehlzündungen. Und so lief ich Punkt 9 Uhr 30 vom Stapel, fuhr los, den Berg hinauf bis zum Ende der Katzensteiner Straße. Der Schnee war noch nicht festgefahren, recht hoch, so daß ich mir meinen Weg durch den Schnee bahnen mußte. Es fuhr sich aber doch wider erwartet recht gut durch den frischen Schnee, sodaß ich auf der Poststraße angekommen weiter beschleunigte auf 20 Stundenkilometer und alsdann die Füße vom Boden nahm und auf die Pedale setzte. "Wunderbar. Ich bin unterwegs..."

Zunächst ging es auf der Poststraße bergab. Hier war ich schon aus dem Dorf hinaus. Ich war ganz alleine unterwegs. In der Ferne sah ich, daß selbst auf der Autobahn kein Verkehr war. "Seltsam. Eine Totalsperrung? In den Nachrichten wurde doch gesagt, daß die Autobahnmeisterei pausenlos im Einsatz sei, dann müßten sie doch die Autobahn schon gestreut haben, seltsam seltsam..."
Die Straße mündete am unteren Ende in einen Feldweg, den zu nehmen die Einheimischen von Gundersheim stets gewohnt waren, auch wenn es offiziell verboten war, diesen als Abkürzung zu benutzen. An dessen Ende mündete der Feldweg auf die große Kreisstraße. Diese mußte ich überqueren um in die Straße Richtung Hangen-Weisheim einzufahren. Das bereitete mir keinerlei Schwierigkeiten bei dem geringen Verkehr heute morgen.


Von jetzt an ging es steil bergauf. Die Steigung hoch nach Hangen-Weisheim war uns schon als Kinder berüchtigt bekannt, denn hier kämpften wir uns mit dem Fahrrad schon viele Male mühselig nach oben. Und die Steigung zieht sich ziemlich lange bis zum Ortseingang. Damit nicht genug: selbst danach geht es im Ort noch beständig weiter bergauf, bis hin zur Raiffeisen-Genossenschaft, wo die Bauern ihren Dünger und Saatgut zu holen pflegen. Also ging es bergan. Ich beschleunigte um etwas Schwung aus der unteren Geraden mitzunehmen in die Steigung. Es klappte. Mit einer Geschwindigkeit von 35 km/h gelangte ich in die Steigung hinein. Von jetzt an kämpfte die Maschine... Die 35 konnte sie unmöglich halten, das war mir klar.

Mit viel Mühe und Liebe hatte ich im Herbst das Mofa ein wenig manipuliert. Ich wußte, daß dies verboten war. Doch das taten wir alle, die wir ein Mofa fuhren. Auch meine Schulkameraden. Und einige von ihnen erzählten ständig von ihren neusten Geschwindigkeitsrekorden. Einer von meinen Schulkameraden, der Müller Fips aus der unteren Bahnhofstraße konnte sogar von abenteuerlichen Verfolgungsjagden mit der Polizei berichten, der er nur haarscharf und im letzten Moment entkommen konnte und dies nur in der unwegsamen Flur, wo er dann kreuz und quer durch die Weinberge fuhr, wohin ihm die Polizei nicht mehr folgen konnte. Da ich mir solche Verfolgungsfahrten nie antun wollte, manipulierte ich stets nur wenig, so daß es nicht sofort auffiel: so tauschte ich das 50er Ritzel gegen ein 40er aus. Dies weniger im Hinblick auf die sich daraus ergebende höhere Geschwindigkeit, sondern vielmehr auf die sich daraus ergebende niedrigere Drehzahl. Eine niedrigere Drehzahl wirkte sich nämlich bei längeren Fahrten günstig aus, sorgte für einen ruhigeren Motor und damit für eine höhere Laufleistung. Das Ganze hatte natürlich einen Haken: so konnte es eben bei größeren Steigungen sein, daß man in den ersten Gang zurückschalten muß. Doch das nahm ich dann gerne in Kauf.

"Bin mal gespannt, wie weit sie abbaut" dachte ich und versicherte mich noch einmal, daß ich auch den Gasdrehgriff ganz durchgezogen hatte. Im Verlauf wurde die Maschine langsamer, dafür der Motor knurrender, was ein deutlicher Hinweis für mich war, daß sie an Kraft gewann. Bei einer Geschwindigkeit von 25 Stundenkilometern pendelte sich der Geschwindigkeitsmesser schließlich ein. "Das Tempo hält sie!" jubilierte ich und blies die Backen auf. "Hurra, hurra! Nichts hält mich auf!"

Nach Hangen-Weisheim ging es auf die höchste Erhebung des Hochborner Plateaus. Hier oben lag der Schnee noch weitaus höher, schätzungsweise 30 cm. Die Landschaft war offen, ja kahl, kein Baum, kein Strauch. Da der Wind hier oben rauh und steif in einer beständigen Brise wehen kann, gab es stellenweise Schneeverwehungen bis zu einem Meter Höhe. Die Straße war als solche nicht mehr zu erkennen. Vielmehr mußte ich den schlängelnden Straßenverlauf aus den undeutlich sichtbaren weißen Pfosten erkennen, die die Straße in regelmäßigem Abstand von 50 m begrenzten. Ich fror. Der Wind ging durch Mark und Bein. Ich zog den Schal enger.

Wie immer, wenn ich auf Tour war, sang ich während der Fahrt. Ganze Rockopern hatte ich im Verlauf des Jahres schon gedichtet. Die Texte waren stets auf englisch, denn darauf reimt sich einfach mehr und man konnte singen was man wollte, es paßte einfach immer. Ich sang über Liebe und Leidenschaft, Sorgen, Erwartungen und Hoffnungen meiner unbeschwerten Jugendzeit. In meinen Liedern ging ich aber immer mit der Zeit und so auch heute. Heute - so kam ich schnell mit mir überein - heute mußte ich was weihnachtliches singen, abgewandelt natürlich. Ich machte das immer ganz kunstvoll, indem ich ein mir bekanntes Lied als Vorlage benutzte um dieses dann in einer Rock-Version verpackt, in vielerlei Variationen musikalisch zu verarbeiten. Da kamen manchmal ganz interessante, ja davon war ich überzeugt, bestimmt aufzeichnungsreife Werke zustande, so auch heute. Und heute war ja ein besonderer Tag. Also gab ich mir auch besonders Mühe beim Dichten und Singen. Heute, an Heiligabend, was wäre da passender als ein gutes Weihnachtslied? Aber ein besonderes. Genau. Ich wollte das Lied nehmen, das wir am 3. Adventssonntag in der Kirche gesungen hatten: Nr. 110 im Gotteslob, ich erinnerte mich, es heißt: "Wachet auf ruft uns die Stimme..."

Oh ja, die Melodie ist schön. Und so begann ich das Konzert feierlich, ganz klassisch mit Pauken und Trompeten, mit Pomp und mit viel Zirkumstanz den Choral zu intonieren. Nach der ersten Strophe leitete ich dann über in die mir gewohnten vertrackten rockigen Akkorde und Rhythmen meiner Lieblingsband "YES". Das entstehende Lied nannte ich demnach "Wake up Jerusulem", also "Wach auf Jerusalem". Der Text meiner Lieder war ja stets englisch, ins Deutsche übersetzt sang ich folgende Zeilen:

Oh Jerusalem
Die Gnade deiner Zeit
Ist gekommen
Zu schauen
Den König von Israel
Wach auf
Wach auf Jerusalem
Und sieh nach vorn:
Der Retter ist geborn!

In all der Zeit
Wo du verloren warst
Erinner die Zeit
Erinner die Zeit
Sie war so lang
Und du warst blind
Und du warst blind
Verdammtest sie alle
Deine Propheten
Die gekommen
Dich zu befrein

Oh Jerusalem
Die Gnade deiner Zeit
Ist gekommen
Zu schauen
Den König von Israel
Wach auf
Wach auf Jerusalem
Und sieh nach vorn:
Der Retter ist geborn!

Das Lied mündete bei dem Refrain in einen musikalischen Höhepunkt, ein Gitarrensolo folgte und zum Abschluß mündete die Melodie wieder in den bekannten Choral von Philipp Nicolai über, feierlich und würdig. Die letzten Klänge verhallten sanft bei Harfe und gedämpftem Schlagzeug und als die letzten Töne verklungen waren, da applaudierten die Zuschauer. "Oh, das ist ja ein Live-Konzert. Aber warum eigentlich nicht..." dachte ich und ließ mich von meinen Fans frenetisch feiern. In der Folge ließ ich einige alte Lieder erklingen, die dem Publikum gefallen mußten, es handelte sich schließlich um alte Songs des vergangenen Sommers. So holte ich tief Luft und ließ "Substructure of suffering" sowie gleich darauf "Into the light" folgen.



Ich war so in mein Konzert vertieft und steigerte mich so in die Gitarrensolis hinein, daß ich meine Umgebung gar nicht mehr bewußt wahrnahm. An der Kreuzung auf der Höhe von Hochborn, dort, wo die große Linde steht, war ich schon vorbei. Die große Linde war ein markanter Baum in der kahlen Landschaft, sie markierte stets die Hälfte des Weges nach Alzey. Bis dahin waren es laut meinem Tacho genau 4,6 Kilometer. Nun ging es fortwährend bergab, zuerst ganz sachte, aber dann kam der Punkt, wo das Hochborner Plateau in die Abraumzone übergeht und von da ab ging es abrupt steil bergab. Die Straße war hier uneben so daß ich die Geschwindigkeit verringerte. Ich ließ den Motor bremsen, denn so konnte das Rad nicht blockieren und wegrutschen. So gelangte ich sicheren Weges nach Dautenheim. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung bis ins Industriegebiet, wo der Massa-Markt angesiedelt war. Ich freute mich bei der Ankunft zu sehen, daß auf dem großen Parkplatz nur wenige Autos geparkt hatten. Es war also nicht soviel los. Das war mir ganz recht. Nur ungern drängte ich mich am Heiligabend durch Menschenmassen und nur ungern wollte ich in langen Schlangen anstehen, an der Fleischerei, der Bäckerei und an der Kasse.

So parkte ich mein Zweirad in erster Reihe im Eingangsbereich des Marktes, setzte es auf den Ständer und schloß es ab. Dann entledigte ich mich dem Helm und ging ins Innere. Dort war es recht angenehm warm. An einem Schließfach entledigte ich mich Helm, Nierengurt, Schal, Handschuhen und dem dicken Parka. Dann holte ich einen Wagen und erledigte den Einkauf. In aller Ruhe und ohne Hetze schlenderte ich zielstrebig die langen Regale entlang und hakte Punkt für Punkt auf der Einkaufsliste ab.

Das Anstehen an der Fleischerei gestaltete sich alles andere als langweilig. Vielmehr sprach mich eine Frau an, die vielleicht an die 40 war, und mich fragte, ob ich denn wisse, ob sie hier auch Wurst verkaufen würden. Ich meinte, man könne die Verkäuferin auch fragen, ob sie im Zuge der Bedienung von Fleisch einem nicht auch noch das ein oder andere Stück Wurst bringen könne. Aber eine Garantie dafür, daß die Verkäuferin dies tut, habe man nicht, denn die Wurst wird eigentlich dort unten (ich deutete mit meiner Hand nach rechts) 10 Meter weiter verkauft. Und dafür muß man sich eigentlich gesondert anstellen! Die Frau wußte daraufhin nicht recht, was sie tun sollte und tänzelte unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Ich riet ihr, sich doch gleich an der Wurst anzustellen, denn dort wurde gerade frei. Dies tat sie dann auch. Später sah ich sie noch einmal im Markt und sie grüßte ganz freundlich.

So tätigte ich den Einkauf, bezahlte und schloß die Sachen dann ebenfalls in mehreren Schließfächern ein. Dann ging ich in die Wäscherei. Diese war nur 10 m links vom Eingang des Marktes entfernt direkt hinter der Pommes-Bude. Als ich in das kleine Geschäft eintrat erkannte ich sofort Tante Hilde, die gerade daran war, ein Hemd zu bügeln. Als sie mich sah, unterbrach sie ihre Arbeit und wendete sich mir zu. "Ei ei ei", sagte sie, "wie hast denn du den Weg hierher gemacht, bei dem Wetter?"
Ich entgegnete: "Was tut man nicht alles, daß man zuhaus gut zu essen hat? Na man fährt hierher. Auch bei Schnee und Eis. Aber dafür gibt's an Weihnachten auch die leckersten Sachen!" fügte ich noch hinzu. Sie ging an einen großen Ständer und griff zielsicher nach einer Hose, steckte sie in eine Plastikhülle und kam zurück. "Na dann wünsche ich euch viel Hunger und Freude bei den leckeren Sachen! Das macht dann 5,80" sagte sie.
Ich bezahlte. "Und sag einen Gruß zuhause, ja? Ein frohes Weihnachtsfest!"
"Gleichfalls. Tschüß!" nickte ich freundlich und war auch schon draußen.

Jetzt sollte ich auf meine Kosten kommen: also ging ich in die gute alte Massa-Kantine. Diese war einfach, aber gut. Und heute zum Tag vorm Fest war die Räumlichkeit gar schön geschmückt mit rot-weißem Stoff und Schriftzügen "Frohes Fest" sowie Weihnachtssternen auf jedem Platz. Es herrschte reger Betrieb. Viele Kassiererinnen machten gerade ihre Pause, es wurde gegessen, getrunken, dabei geredet, diskutiert und viel geraucht... Ich reihte mich in der Schlange ein und verlangte als ich dran war, eine doppelte Portion Pommes frites mit Jägersoße. Das war mein Standard-Leibgericht und aß ich immer, wenn ich für Mutter bei Massa einkaufte. Ich zog eine Flasche Binding Export aus dem Kühlregal und stellte es ebenfalls auf das Tablett. Hatte ich doch heute wieder ein Glück. Ich hielt die Luft an: denn an der Kasse wurde mir nur eine Portion Pommes abgezogen, dazu das Bier.

"Das sind dann 3 Mark 20 bitte" sagte die Kassiererin mit einem mechanischen Lächeln und hielt die Hand auf. Nicht immer hatte ich dieses Glück, denn es kam darauf an, wer die Portionen austeilte, und die kleine dickliche Frau vergaß stets, die Kassiererin darauf hinzuweisen, daß sie eine doppelte Portion ausgeteilt hatte. Nicht aber die anderen Bediensteten. Sie vergaßen das - ich glaube - fast nie.

Und so ließ ich mich an einem noch freien Tisch am Fenster nieder und legte los. Bei Pommes mit Jägersoße entwickelte ich immer einen großen Hunger. Und so schaufelte ich in mich hinein und ließ es mir schmecken. Bei einem großen Schluck Bier aus der Flasche sah ich nach draußen auf den Parkplatz: "Mist, es schneit wieder. Wenn das so weitergeht, dann bin ich hier von der Außenwelt abgeschnitten, dann kann ich Weihnachten hier verbringen..." So langsam wurde es mir mulmig, denn ich kannte ja die aktuelle Wetterlage, die noch mehr Schnee verhieß im Laufe des Tages. Ich mußte mich beeilen, bevor das Verkehrschaos ausbrach. Dennoch versuchte ich ruhig zu bleiben und sagte immer wieder zu mir selbst: "Das geht schon. Das schaff ich schon..."

Nach meiner Mahlzeit drehte ich mir noch eine Zigarette aus wohlriechendem Buccaneer-Tabak und rauchte sie genüßlich. Draußen wurde der Schneefall dichter. Ich beobachtete wie immer mehr Autos auf den Parkplatz einfuhren und es drängten immer mehr Leute in den Markt hinein, um ihren letzten Einkauf, den letzten vor dem Heiligabend, zu erledigen. "Und los geht's!" gab ich mir das Signal zum Aufbruch und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Ich verließ die Kantine um im Eingangsbereich des Marktes an den Schließfächern mich wieder anzukleiden. Nun empfand ich die Kälte als unangenehm, sie war viel stärker präsent als noch heute morgen bei der Herfahrt. "Seltsam" dachte ich. "Es kann doch unmöglich kälter geworden sein". In der Autoschlange reihte ich mich ein und wartete wie die anderen Verkehrsteilnehmer darauf, daß die Kreuzung frei wurde, dann kam auch schließlich ich an die Reihe und fuhr los. Der Schnee auf der vielbefahrenen Industriestraße in Richtung Stadt war matschig. Somit war das Fahren unproblematisch. Unangenehm war jetzt nur das Spritzwasser der überholenden Autos, welches die Vorderseite meiner Hosen mit einem graubraunen Sprenkelmuster überzog. Dazu kam, daß ich mich jetzt stärker als heute morgen konzentrieren mußte, ganz rechts zu fahren. Alles in allem keine so angenehme Fahrt...

11 Uhr 30: Ankunft in der Stadt. 20 Minuten hatte ich gebraucht durch das Verkehrsgetümmel. Alzey, die 20.000 Einwohner zählende Stadt des hier einst geborenen Minnesängers Volker von Alzey schien nun vollends erwacht: denn an einigen neuralgischen Punkten und Ausfallstraßen ging so gut wie gar nichts mehr. In solchen Momenten freute ich mich immer. Geschickt aber stets vorsichtig zog ich nämlich seitlich an der Kolonne vorbei. "Triumph, diesmal bin ich es, der die Autos bespritzt!" dachte ich.


Ich parkte auf dem Roßmarkt um von dort meine Geschäfte anzugehen. So lief ich von dort aus erst zum Elektrogeschäft Gasser um den Film zu holen. Im Laufen kam ich mir vor wie ein Seebär, so ungelenkig war ich in meiner Bekleidung. Kaum kam ich durch die Eingangstür des Geschäfts hindurch. Die enge Schlucht der St.-Georgen-Straße war festlich geschmückt und an den Schaufenstern waren allerlei hübsche Dekoration und Beleuchtung angebracht. Nicht wenige Leute standen vor den Geschäften und besahen sich die ausliegenden Waren. Es war dies die letzte Möglichkeit eines Einkaufs. Nachher, um 12 Uhr 30 würden die Geschäfte schließen und dann würde hier Ruhe einkehren, Ruhe in die sonst so hektische Fußgängerzone. Wer dann nicht alles besorgt hatte, würde es nicht mehr brauchen. Ich strebte der Apotheke zu, die am oberen Ende der St.-Georgen-Straße gelegen war. Ich verlangte wie auf meinem Einkaufszettel notiert Aspirin und Spalttabletten und bekam sogar noch 3 Pfefferminzbonbons als kleine Aufmerksamkeit mit in die Plastiktüte hinein.

Der Apotheker unterhielt sich mit einer Frau: "Ah Frau Rossner, wie geht's Ihnen denn?... Gut? Ach das freut mich. Hat die Medizin Ihnen geholfen?
Ah, schön. Bleiben Sie an den Festtagen zuhaus oder bekommen Sie Besuch?"
Die Frau, es handelte sich um eine ältere Dame, sagte, daß sie Besuch bekomme am 2. Feiertag von ihrer Tochter. "Ach und dann seh ich wieder mal meine Enkel, den Tobi und den Stefan. Das sind zwei Racker, die stellen immer was an... Aber lieb sind sie. Ich hab' sie ja so gern!"

So sprach sie. "Auch das ist Alzey" dachte ich. Zwar Stadt aber dennoch Dorf. Man kennt sich hier noch persönlich und grüßt sich. Ich fand das schön, wenn Menschen sich grüßten und Anteil nahmen am Leben des anderen. Nun gut: mich kannte man hier nicht. Dennoch wünschte der Apotheker mir ein "Frohes Fest" mit einem wohlgemeinten Lächeln. Ich erwiderte: "Ihnen auch. Wiedersehen!" und betrat wieder die Straße. Nun hatte ich alles, was zu besorgen mir die Mutter aufgetragen hatte. Nun hieß es nur noch zurückzufahren zum Massa, die Sachen holen und ich konnte mich auf die Rückreise begeben.

Um die Mittagszeit war ich wieder am Markt angekommen. Ich holte die Sachen aus den Schließfächern und nun war ich drum und dran, die vielen Tüten mit Hilfe der Expander am Gepäckträger festzuzurren. Das Packen machte ich immer ganz feierlich, überlegt und ruhig, dabei eine Zigarette rauchend. Zwei Tüten würde ich auch noch an den Lenker hängen können, das wußte ich. Bald hatte ich es geschafft, nahm noch einen letzten Zug an der Zigarette und warf sie dann in den Schnee nahe der Pommes frites-Bude.

Ich mochte wohl ein Bild abgegeben haben als ich losfuhr: ein riesiger Knäuel, mit unzähligen Tüten auf dem Gepäckträger, am Lenker und sogar zwischen den Beinen, am Tank befestigt. Fast mißlang mir das Anfahren und es drohte, daß ich das Gleichgewicht verlor. Doch ich fing mich noch einmal und gab Gas. "Jetzt soll mir nur niemand mehr in die Quere kommen", sagte ich laut und hauchte aus. Doch hierbei beschlug das Helmvisier und nahm mir komplett die Sicht. Ich fluchte, denn ich mußte nun anhalten ob ich wollte oder nicht um das Visier abzuwischen. Getan. Wieder anfahren. An der Kreuzung umständlich anhalten, freie Fahrt abwarten, dann Vollgas in Richtung Dautenheim. Nach anfänglich schwankender Fahrt pendelte ich mich ein, je mehr ich an Geschwindigkeit gewann. Jetzt hatte ich wieder genug Luft um innerlich zu triumphieren und mich zu freuen: "Hurra, ich bin auf dem Heimweg! Das Weihnachtsfest kann kommen mit all' den Gaumenfreuden! Hurra!" Doch noch war ich nicht zuhause und ich hatte noch 10 km Rückfahrt zu bewältigen.

So kam ich erneut durch das kleine Bauerndörfchen Dautenheim hindurch, welches mit Weihnachtsbeleuchtung über die Straße geschmückt war. Die Beleuchtung hatte man angeschaltet, denn am heutigen Tag würde es ohnehin nicht mehr richtig hell werden. Die Wolkendecke war nämlich merklich abgesunken und aus ihr fielen Schneeflocken, mittlerweile so dicht, daß die Sicht dadurch beeinträchtigt wurde.


Der Vorfahrtstraße im Dorf folgend gelangte man an einem kleinen Platz vorbei. Ein Tannenbaum, ein Prachtkerl von einem Exemplar, wurde dort gerade aufgestellt. Die Feuerwehr hatte den Platz der Sicherheit halber abgesperrt und nun waren mehrere Gemeindehelfer damit beschäftigt, dem Baum den nötigen Halt am Stammfuß zu geben indem sie große Holzkeile in die Form hineinschlugen. Ein großer Teil der Bevölkerung wohnte diesem Spektakel bei und besonders viele Kinder konzentrierten sich auf das Geschehen, welches sich da vor ihnen vollzog. An einem Hauseingang hatten sich einige Leute versammelt. Es wurde Glühwein getrunken und über die Höhe des Baums diskutiert. Mit Gesten und Gebärden deuteten sie immer wieder auf ihn. Das Treiben war schon groß...

Zielstrebig verließ ich den Ort. Der Wind hatte gedreht und blies mir nun die Schneeflocken direkt ins Gesicht. Ich schloß das Helmvisier und zog den Wollschal schützend unters Kinn. Am Friedhof vorbei ging es nun wieder steil bergan bis zum Plateau, welches 200 m höher lag. Bis dahin war es rund ein Kilometer. Die Sichtverhältnisse waren jetzt so schlecht, daß ich genötigt war, die Geschwindigkeit zu verringern. Ich wußte, daß ich hierbei nützlichen Schwung aus der Gerade verlieren würde. Aber die Gefahr war einfach zu groß, bei einem plötzlich auftretenden Hindernis einen Unfall zu riskieren. Infolgedessen entschied ich vom Gas zu gehen. Die Tachonadel war ungenau denn sie bewegte sich schon seit Monaten wie ein Kuhschwanz, so daß man entweder 30 oder 35 Stundenkilometer ablesen konnte um sich dann nach Belieben für den ein oder anderen Wert zu entscheiden. Im unteren Drittel der Steigung hielt ich das Tempo nun zwischen 25 und 30. Die Steigung verstärkte sich: die Geschwindigkeit verringerte sich unaufhaltsam auf 20, der Motor wurde zwar knurrender, doch dieses Mal konnte er dem ungewohnten Gewicht nichts mehr entgegensetzen. Die Fahrt wurde immer langsamer und ich entschloß nun, in den ersten Gang herunterzuschalten. Der Motor heulte auf und knurrte böse. Beißend nahm er den Kampf wieder auf und ich gewann wieder an Fahrt.

Bald mußte doch das Wegekreuz kommen. Es stand am Straßenrand in einer kleinen Bucht, die durch eine hohe Böschung guten Schutz bot. Die Schneeflocken wurden immer dicker und der Schneefall sorgte nun für ein munteres Treiben im Lichtkegel des Scheinwerfers. Es war ungewöhnlich dunkel heute und die Sicht mittlerweile reduziert auf nur wenige Meter. Plötzlich machte es ein knisterndes Geräusch... dann noch einmal. Die Plastiktasche hatte sich vom Tank gelöst und drohte, herunterzufallen. Wenn ich nicht sofort anhielt, würden die ganzen Sachen im Schnee liegen. "Oh Heiland steh mir bei!" flehte ich um Hilfe. Als sei mein Stoßgebet erhört worden, tauchte plötzlich die Bucht vor mir auf. Ich schwenkte ein und hielt an.

Ich besah mir die Tasche. Sie war infolge des Gewichts gerissen und es war nun unmöglich geworden sie weiter zu transportieren. "Warum habe ich denn nicht noch ein paar Tüten als Ersatz mitgenommen?" dachte ich verärgert über mich selbst. Auf den Schreck hin, entschloß ich mich spontan zu einer Pause in dem kleinen Unterstand. Also bockte ich das Mofa auf seinen Ständer, setzte den Helm ab, trat vor das Wegekreuz und schlug ehrfürchtig ein Kreuzzeichen. "Jesus hilf! Was soll ich jetzt tun?" So sprach ich und erwartete eine Antwort. Doch der Heiland schaute betrübt zur Seite. Man hatte ihm übel mitgespielt und es tat mir allen Anschein, daß er mir im Moment keine Hilfe anbieten konnte, so als wollte er sagen: "Ich habe mich in mein Schicksal ergeben, dem Vater gehorsam!"
"Aber hat nicht Jesus am Schluß triumphiert?" dachte ich. Da erkannte ich: In der Ohnmacht liegt die Kraft. Ich erinnerte mich des oft gehörten Wortes der Passion: "... aber Vater nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe!"

Diese Worte hauchte ich leise aus und während ich dies tat, heulte ein Motor auf, es schepperte und jemand anderes fuhr in die Bucht ein. Ich erschrak und drehte mich um. Ich erkannte eine Gestalt, die ebenfalls mit Mofa unterwegs war. Es war ein Mann, der ebenfalls wie ich so dick eingepackt war, daß man ihn nicht erkennen konnte. Er fuhr eine Zündapp, 3-Gang. Sowas war immer mein Traum gewesen, hatte meine Prima 5 doch nur ein 2-Gang-Getriebe. Es mochte ein berauschendes Gefühl sein, einmal mehr schalten zu können dachte ich bei mir. Der Mann trug auffällig abgenutzte Kleidung, alt und verschlissen, einen grünen, weit über die Knie reichenden Mantel von der US-Armee und einen sogenannten Starflight-Helm. Er mochte recht kräftig sein, denn er wirkte in seiner Gesamterscheinung doppelt so groß wie ich. Am Gepäckträger des Mofas hatte er eine Kupplung und daran war ein geräumiger Anhänger befestigt. Darauf standen, soweit ich erkennen konnte, 3 prall gefüllte Einkaufstüten, ein Kasten Selters sowie ein ganzer Kasten Germania Pils. "Wahnsinn. Der kauft sogar Kästen ein!" dachte ich bei mir. Soweit war ich noch nicht, daß ich auch Kästen nach Hause schleppte. Dafür fehlte mir das nötige Equipment, sprich Anhänger. Aber mein Christtagseinkauf stand in der Menge gesehen nicht hinten an. Nur daß ich meinen Einkauf nicht so komfortabel unterbringen konnte wie er.

Jetzt setzte er lässig mit einer Hand den Helm ab. Da erkannte ich ihn: es war der Grünmayer Wilfried aus Heßloch, den sie auch den "Koller" nannten. Nicht gerade Gutes erzählte man von ihm. Aufgewachsen in einem Elternhaus, wo der Vater ein Schläger und Raufbold war, die Mutter so schlecht, weil sie sich ständig mit Hausierern einließ hatte er nicht unbedingt den besten Ruf in der Schule. Er galt als durchtrieben und er kam mit Redewendungen und Floskeln zur Schule, die wir noch nicht kannten.


Weiterhin war er nicht gerade zimperlich mit den Lehrern und bezeichnete sie öffentlich gerne als "Bleistiftkratzer" oder "Sesselfurzer". Dafür hatte er aber schon mehr als einmal nachsitzen müssen. Er war in der Parallelklasse, der 9b, und würde ohnehin dieses Jahr sitzenbleiben, so mutmaßte ich. Dumm war der "Koller" aber keineswegs. Es handelte sich bei ihm vielmehr um einen faulen Kerl, der schon was konnte, wenn er sich nur auf die Hinterfüße setzen würde. Dies tat er aber nicht. Vielmehr frisierte er gerne sein Mofa oder auch das anderer Mitschüler, weswegen er eine gewisse Beliebtheit genoß. Ich stand zu ihm ganz neutral. Wir kannten uns vom Sehen, hatten aber bisher nie weiter Kontakt gehabt. Er stellte seine Zündapp auf den Seitenständer und trat näher: "Ei, gute! Hast ne Panne?"

"Nö", entgegnete ich entschieden, "ich mach nur ne Pause!"
Er kam noch näher heran, und der Schnee unter seinen Stiefeln knirschte. "Muß ich jetzt auch machen!" sagte er, zog eine Packung aus der rechten Manteltasche hervor um sie mir hinzuhalten: "Na, rauchen wir eine?"
Ich lehnte ab. Vom Koller war bekannt, daß er jedes Kraut rauchte, was nur irgend billig war, egal wie's schmeckt und woher es kam. Stattdessen holte ich eine bereits fertig gedrehte Zigarette hervor. "Ah, du bist ein Bastler! Das ist auch nicht schlecht. Aber mir is das zuviel Arbeit.
Und ich brauch was handfestes!"
Ja, ja handfestes. Womit er wieder mal anspielte auf seine schon dutzend Liebschaften, die er - angeblich - schon hatte, und von denen er zu prahlen nie aufhörte. Er holte ein Feuerzeug hervor. Mit einem Schnicken ließ er es aufschnappen und hielt es mir vor die Nase.
"Bist wohl auf dem Heimweg?" argwohnte er. Ich nickte und zog an der Zigarette.
"Ich auch. Gräßliches Wetter is das, nicht wahr?" sagte er und zündete sich ebenfalls die Zigarette an.
Ich wollte ihm jetzt keinen Vortrag halten, warum ich dieses Wetter ganz gern habe zu Weihnachten, das hätte er sicher sowieso nicht verstanden.
Deshalb antwortete ich nur: "Es soll sogar noch mehr Schnee geben!"

Daraufhin trat er einen Schritt zurück um in die weiße Landschaft hinauszuschauen: "Als wenn das nicht schon genug wäre! Und dann dieses scheinheilige Gehabe um Weihnachten! Verrückt sind die alle! Rennen schon wochenlang im Massa rum für Geschenke! Geschenke! Was für'n Quatsch... Uns daheim ist das Scheißegal. Ich soll meinem Alten einen Kasten Bier zu Weihnachten schenken, hat er gesagt. Und sieh her: da hab ich ihn. Er ist mir noch net mal bös, wenn eins fehlt im Kasten, ... na...na... na willst vielleicht auch eins Gringo?"
Die abfällige Bemerkung mußte er von seinem Vater haben. Und Gringo nannte er immer gerne einen x-beliebigen. Er machte drei Schritte zum Hänger und kam mit zwei Bierflaschen zurück. Ich wollte ablehnen, dann gab ich mir einen Stoß und dachte: "Warum eigentlich nicht? Nicht immer bekommst du die Gelegenheit, mit dem Koller ins Gespräch zu kommen."
Er öffnete die Bierflaschen, gab mir eine und prostete mir zu: "Auf Weihnachten. Dem verlogensten Fest im Jahr!" Er machte einen großen Schluck, stieß danach einen unflätigen Laut von sich, welcher sich anhörte, wie wenn ein Elch tief im Wald Brunftgeschrei ertönen läßt, um sich danach etwas verlegen zu räuspern und etwas leiser zu sagen: "Na ist doch so oder nicht, Gringo?"
Nun bezog ich Stellung und erzählte ihm, wie schön es doch sei, zuhause den Christbaum zu schmücken, am Abend dann gemütlich zusammenzusitzen, die Weihnachtsgeschichte zu lesen und gemeinsam Lieder zu singen und sich dann zu beschenken.
"Und spät am Abend gehen wir dann alle in die Christmette!" beschloß ich meine euphorische Erzählung. Den letzten Satz hätte ich nicht sagen dürfen. Denn er hub an:
"Ja ja, das is mir grad recht! Da verkündigen sie Jesus Geburt und daß er vom Himmel gekommen ist. Die falschen Schlangen. Des is doch alles nur Heuchelei. Heuchler sind das alle! Mir geht's grad am Arsch vorbei, mein Alter sagt des auch. Wir feiern net Weihnachten. Mir feiern es ganze Jahr! Mit Germania, Pizza und Pommes vom Knittel!"
Der von ihm erwähnte Knittel war eine anrüchige Kneipe in Heßloch, in der auch seit geraumer Zeit - angeblich genießbare - Pizza und Pommes verkauft wurden. "So so. Beim Knittel gibt's jetzt auch Pizza? Macht der die selbst?" fragte ich um vom Thema abzulenken.
"Ei jo macht der die selbst. Is echt geile Pizza, die der macht!" betonte Koller.

Ich wußte es aber besser. Aus verläßlichen Quellen war mir nämlich bekannt geworden, daß der Knittel bei seiner Pizza auf Tiefkühlpizza (vielleicht sogar vom Massa) zurückgreift und zwar auf die billigste Sorte, Pizza Margarita, welche nur mit Tomatenmark "angepinselt" und davon allenfalls der zusätzliche Belag genießbar war.
Ich nickte dennoch zustimmend und sagte: "Na dann hat Heßloch jetzt auch einen Pizzabäcker!" Und wie um Koller zu schmeicheln ergänzte ich: "Tja, wir in Gundersheim werden noch ein bißchen darauf warten müssen bis wir in diesen Genuß kommen!"
Daraufhin prustete er los, indem er sagte: "Ja, ja Heßloch. Mir wohnen zwar im "Loch" aber immerhin hat Heßloch e Kläranlag. Dess habt ihr auch net!" Und durch sein anschließendes Lachen verspuckte er sprühend Bier, das mich in zwei Schritt Entfernung noch erreichte!
Er tat noch einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche, setzte ab und lehrte den Rest auf den Boden.

"So. Jetzt mach ich mich vom Acker. Muß heim. Wenn mein Alter sein Bier net rechtzeitig kriegt, dann fängt er an zu zucken und macht mich zur Minna...! Sei mir net bös, Gringo!"
Und so trank ich auch leer, reichte ihm die Flasche und nahm meine Tasche in Visier. Er sah dies und meinte verdutzt:
"Wie willst du denn die Tüt heil mit heimbringe? Die verlierste doch unterwegs!"
Ich tat ganz hoffnungsvoll und meinte nur kurz: "Ach das geht schon. Hab schon ganz andere Sachen heimgebracht!"
"Weißt du was Gringo? Ich helf dir ein Stück!" schlug er vor und machte schon eine Handbewegung zur Tasche hin. "Ich fahr ja bis zur Linde. Bis dahin nehm ich dein Bündel mit. Bis dahin kannst du dir ja dann Gedanken gemacht haben, wie du's am besten festschnallen willst..."
Er war nicht mehr von seiner Idee abzubringen, nun den hilfsbereiten Ritter zu spielen. Schon hatte er die Tüte gepackt, stellte sie auf den Hänger, saß auf und startete die Maschine.
"Ja gut" pflichtete ich ihm bei, "aber fahr' nicht so schnell!"

Von einem unguten Gefühl getrieben, setzte ich mich auch auf mein Mofa, setzte den Helm auf und startete. Er war schon im ersten Gang am Anfahren. Ich beeilte mich und setzte ihm nach. Der Schneefall hatte nun etwas nachgelassen und die Sicht war besser. Zunächst fuhren wir hintereinander her. Koller sang auf seinem Mofa vulgäre Lieder: "Vamos a la playa oh-o-o-o-o, zeig mir mol die Eier oh-o-o-o-o!" Wenig später schaltete er in den zweiten Gang und beschleunigte weiter. Dann in den dritten Gang. Der Abstand zu ihm vergrößerte sich. Dann hörte ich ihn singen: "A house, in the middle of our street, a house..." Der Abstand vergrößerte sich immer mehr. Nach zwei Minuten entschwand er mir aus den Augen indem er in den Nebel eintauchte. Mein Herz machte einen Sprung. Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. "Was, wenn der gottverdammte Kerl nicht an der Linde anhält, sondern mit meinem Bündel einfach weiterfährt?" dachte ich und mich überkam ein Schrecken. "Was ist eigentlich in der Tüte drin?" rief ich mir jetzt nochmal ins Bewußtsein. "Es ist die Tüte mit dem Fleisch, der Wurst, den Semmelknödeln, dem Kartoffelbrei..." Oh nein. Das durfte nicht wahr sein. So war das Festmahl mit Gans und Knödeln doch noch in Gefahr!

Den Schrecken in den Gliedern drehte ich den Gasgriff ganz durch. "Der Kerl darf mir nicht durch die Lappen gehen!" Und alle Vorsicht vernachlässigend fuhr ich beständig schneller, viel schneller als mir lieb war. Und tatsächlich kam ich ihm schon näher. Er war jetzt nur noch 100 m von mir entfernt und ich begann zu rufen: "Koller! Koller!" Doch er hörte mich nicht. Stattdessen sang er immer wieder: "Vamos a la playa..." ganz schräg und falsch.
Wir hatten jetzt die Höhe erreicht und die Steigung ging in die Gerade über. Hier hatte ich vielleicht die Chance ihn doch noch einzuholen. So duckte ich mich während der Fahrt sogut es ging um dem Wind sowenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Doch ich sollte mich ihm nicht weiter nähern. Er hatte wohl mitbekommen, wie ich näherkam und hatte das Tempo erhöht in einer Weise, in der ich ihn unmöglich einholen konnte. "Der Drecksack" dachte ich und knirschte mit den Zähnen. "Wenn der Koller an der Linde nicht anhält sondern einfach gradeaus weiterfährt, dann bin ich mein Bündel los!" rief ich mir noch einmal ins Gedächtnis. Noch war es etwa 1 km bis zur besagten Linde, wo sich die Straßen verzweigen. Ich überlegte angestrengt, was ich noch tun könnte. Doch es fiel mir nichts mehr ein. Jetzt war ich dem guten Willen des Koller ausgeliefert. Aber einen "guten Willen" traute ich ihm nach dieser unserer Unterhaltung nicht mehr zu.

Von hinten näherte sich jetzt ein Fahrzeug. Es mußte sich um was größeres handeln, denn der Motor machte dröhnende Geräusche. "Wohl ein Panzer!" dachte ich. Die Scheinwerfer waren viel zu hoch angebracht. Der Scheinwerferkegel erreichte mich. Jetzt erkannte ich im Rückspiegel, daß es nicht ein Panzer sondern ein großer Traktor war. Aber es war nicht irgendein Traktor. Vielmehr kam mir das rhythmische Knattern des Motors bekannt vor. So einen MB-Track fuhr doch der Steppuhn Sepp. Das wußte ich. Schon oft hatte er mich auf der Fahrt nach Westhofen überholt. Es war der einzige Traktor, den zu überholen ich keine Chance hatte, da er über 50 km/h fahren kann. "Das mußte der Sepp sein" dachte ich und schickte ein Stoßgebet zum Himmel: "Oh Gott, bitte laß es den Sepp sein!"

Tatsächlich. Im Überholen erkannte ich den Sepp auf dem Traktor. Eben schaute er zu mir herunter und grüßte. Da rief ich ihm zu so laut ich konnte:
"Sepp, Sepp, bitte hilf mir! Der Koller hat eine meiner Einkaufstaschen mit auf seinem Hänger und hat mich abgehängt weil er schneller fahren kann. Ich glaube er will sie mir nicht mehr zurückgeben! Bitte hol ihn ein und nimm die Tasche auf!"


Mehr brauchte ich nicht zu rufen, denn er hatte die Situation sofort verstanden. Mir kurz zunickend, nahm er die Verfolgung auf.
Der Motor knurrte böse und laut auf und alsbald verschwand er im Nebel. Nach etwa einer Minute wurde der Motor abrupt leise und ich sah undeutlich im Nebel die Bremslichter aufleuchten. Nach einer Weile erloschen die Lichter und der Motor des Traktors knurrte wieder laut. Dann wurde es beständig ruhiger um mich. Nach einer weiteren Minute war ich ganz allein auf der Straße und um mich herum war alles in Halbdunkel und in Weiß getaucht. Ich traf die Linde verlassen vor. Er hätte also nicht gewartet, der Koller, das war mir nun gewiß. In Sepp's Traktor war meine Einkaufstasche aber sicher aufgehoben. Erleichtert darüber besann ich mich wieder auf ein gemütlicheres Tempo und ließ den Gasdrehgriff etwas lockerer.

Vor Hangen-Weisheim kam ich an den Plateaurand, der Nebel lichtete sich abrupt und es präsentierte sich mir, wie wenn jemand einen Vorhang aufschlägt, eine prachtvolle Aussicht auf das vor mir liegende heimatliche Tal des Altbachs mit den Lichtern von Gundersheim. Jetzt sehnte ich mich nur noch nach der Ankunft. Denn mittlerweile war die Kälte durch die Handschuhe gedrungen und auch die Füße froren mir. Ich bahnte mir meinen Weg durch den frisch gefallenen Schnee bis nach Hangen-Weisheim. Auf dem Weg die Steigung hinunter nach Gundersheim war ich mir gewiß, daß nun alles gut ging und voller Freude begann ich zu singen:

"In dulci jubilo
Nun singet und seid froh:
Unsers Herzens Wonne
Liegt in praesepio
Und leuchtet wie die Sonne
Matris in gremio
Alpha es et O
Alpha es et O."

So kehrte ich wohlbehalten zuhause ein. Vor dem Haus stand der Traktor von Sepp. Der Vater und Sepp erwarteten mich bereits. In der Hand hielt Vater mein Bündel, welches Koller beinahe sich einverleibt hätte wenn denn nicht der Sepp zur Stelle gewesen wäre. Begeistert über meine abenteuerliche Fahrt klopfte mir Vater auf die Schulter: "Das hast du gut gemacht Martin!"
Und ich kam nicht umhin, den Sepp zu umarmen: "Mensch Sepp, ich danke Dir! Der Teufelskerl hätte meine Tasche glatt mitgenommen!"


Worauf der Sepp antwortete: "Vor der Linde habe ich den Kerl einholt. Dem hab ich ganz schön den Kittel geflickt! Das macht der garantiert nicht mehr!"
Indem mir beide beim Abladen der Taschen halfen, kehrten wir schließlich in das Haus ein. Vater hatte im Kamin ein hochloderndes Feuer gemacht und wies mir den Ehrenplatz davor zu.
"Wärm' dich erstmal auf!" meinte er gutmütig. Dann brachte er die Taschen in die Küche. Die Mutter eilte herbei: "Was hab ich da gehört? Ach wie gut, daß der Josef grad unterwegs war um dir zu helfen, mein Bub!" Und sie trat heran um mich zu drücken. "Mein Guter" sagte sie. "Hast soviel durchstehen müssen!"

Vater kehrte mit 3 Weihnachtsbier zurück ins Wohnzimmer. Die Stimmung war so festlich: der prasselnde Kamin, es roch nach Weihrauch und frischgebackenem Kuchen...
Wir stießen an, Sepp, der Vater und ich. "Auf ein Frohes Fest!" Wir taten einen großen Schluck. Das Abenteuer auf dem Hochborner Plateau vor der Linde war noch lange unser Gesprächsthema und ich kam nicht umhin, von Kollers abfälligen Bemerkungen über Weihnachten zu erzählen. Sepp wußte auch noch das ein und andere über den Koller zu berichten. Bestimmt werde er mal so enden wie sein Vater: ein Saufbold und ein Taugenichts. Davon war Sepp fest überzeugt. Wir saßen noch einige Zeit gemütlich zusammen. Mutter brachte belegte Brote ins Wohnzimmer.

Irgendwann, ich weiß nicht mehr genau wann es war, war es nach dem zweiten Bier oder doch dem dritten, da legte sich eine wohlige Wärme um meinen Körper und meine Augen wurden ganz schwer. Und, langgestreckt vor dem Kamin liegend, muß ich dann wohl eingeschlafen sein. Die Müdigkeit hatte mich übermannt. Mutter und Vater müssen dann noch den Weihnachtsbaum geschmückt haben. Denn als ich wieder erwachte lag ich ausgeruht in meinem Bett und es war der Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages angebrochen.

Und von oben, dem Wohnzimmer hörte ich sanft die Melodie des "Puer natus in Betlehem" erklingen:

Ein Kind geborn zu Betlehem
Des freuet sich Jerusalem.
Halleluja, halleluja.

Hier liegt es in dem Krippelein
Ohn Ende ist die Herrschaft sein.
Halleluja, halleluja.

Die König aus Saba kamen her,
Gold, Weihrauch, Myrrhe brachten sie dar.
Halleluja, halleluja.

Sie gingen in das Haus hinein,
Und grüßten das Kind und die Mutter sein.
Halleluja, halleluja.

Sie fielen nieder auf ihre Knie,
Und sprachen: Gott und Mensch ist hie.
Halleluja, halleluja.

Für solche gnadenreiche Zeit
Sei Gott gelobt in Ewigkeit.
Halleluja, Halleluja.




Martin Werner, Advent 2004

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